- Eröffnung
„Du bist mein Schirm, du wirst mich vor Angst behüten, dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann.“ So preisen die Worte im Psalm 32 das Bekenntnis zu Gottes unerschöpflicher Liebe. Sie trägt uns durch die kommenden Tage.
- Der Herzwurm – Psalmlied nach Psalm 32 (Cornelius Becker)
- Der Mensch für Gott wohl selig ist
dem die Sünd ist vergeben
aus lauter Gnad durch Jesum Christ,
der uns erwarb das Leben;
deckt zu all unser Missetat,
zahlt, was er nicht verschuldet hat /
durch sein Blut, Tod und Wunden. - Wer auf ihn setzt sein Zuversicht,
der steht in Gottes Hulde,
er kommt nicht in das streng Gericht,
durchstrichen ist sein Schulde,
doch muss sein Herz in wahrer Reu
sein Sünd bekennen ohne Scheu
und Zuflucht han zur Gnade. - Da ich mein Sünd verschweigen wollt
bracht mirs unsäglich Schmerzen,
ich wüsst nicht, wo ich bleiben sollt,
so sehr drückt michs am Herzen,
das Mark verschwand mir im Gebein
für große Angst der Seelen mein.
Der Herzwurm mich stets naget. - Schwer deine Hand war über mir,
drückt mich ohn alle Maße.
Tag und Nacht ich nicht ruht dafür,
wolltst nur kein Frieden lassen davon
verging meines Lebenskraft,
wie Laub und Gras, wenn`s ohne Saft
von steter Hitz verdorret. - Drum mein Herz endlich brach herfür,
konnt`s nicht länger verhehlen.
Ich sprach: ich will Herr Gott für dir
rein beichten, was mich quälet.
Sobald ich nur um Gnade bat,
vergabst du mir die Missetat,
damit ich dich erzürnet. - Dafür all Heilign in Gemein
zu rechter Zeit dich bitten.
Du wolltest ihnen gnädig sein,
ob sie wär‘n ausgeschritten.
Du nimmst dich ihr in Gnaden an,
wenn dein Fluten gehen heran,
werden sie nicht verderbet. - Du bist mein Schirm, wirst durch dein Gnad
für Angst mich wohl behüten,
dass ich errettet, früh und spat
fröhlich rühm deine Güte.
Du zeigest uns den rechten Weg
zu gehen auf des Lebens Steg
durch dein Antlitz geleitet.
- Auch unter dem Leid – Gedanken zum Psalmlied von Cornelius Becker
Eine Redekur nannte Sigmund Freud seine ersten Versuche in der Psychotherapie. Heilen durch das Gespräch, so könnte man das Wort erklären. Gib deinem – „inneren“ – Konflikt einen Namen, so kannst du ihn überwinden. Fasse dein Problem in Worte, dann verschwindet es schon.
In Psalm 32 findet sich eine ähnliche Vorstellung. Sag deine Sünde, gib ihr einen Namen, so nimmt sie Gott von dir. Ein ausdrückliches Bedauern oder eine Tat der Buße wird hier nicht verlangt. Allein das Wort wirkt unmittelbar. Gott hört es. Er nimmt seine drückenden Hände weg. Der Mensch ist wieder frei von seinem Leid. Das Verhältnis zwischen ihm und Gott ist geklärt. Alles ist wieder gut.
Die Bilder, in denen der klagende Mensch im Psalm sein Leiden beschreibt, machen das deutlich. Nicht nur körperliche Krankheit prägen sie, sondern Bilder des Todes. Ein verschmachtender Körper, eine verheerende Dürre, eine lebensgefährliche Flut. In großer Klarheit wird gesagt: Ohne Gott kann der Mensch nicht leben. Wenn er sich von ihm entfernt, dann stirbt er. Wenn er das aber ausspricht, nimmt Gott seine strafende Hand von ihm und erhält ihn weiter am Leben. Auch in der eindeutigen Verwendung von Ich und Du drückt sich das aus. Erst spricht der leidende Mensch, dann spricht Gott: Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten. Am Ende wird das noch einmal zusammengefasst: Der Gottlose hat viel Plage; wer aber auf den Herrn hofft, den wird die Güte umfangen.
Leider entspricht das selten meiner Erfahrung. Wenn ich die Sünde nur benenne, werde ich sie nicht los. Sie kehrt aus den flüchtigen Worten wieder zurück. Sie nistet sich tief in mir ein, in den Knochen, im Bauchraum, wühlt dort, blüht auf der Haut und schmerzt im Rücken. Sie haust in den unabweisbaren im Kopf sausenden Gedankenschlingen, die einen wilden Tanz aufführen in den schlaflosen Nächten.
Ja, es wäre wunderbar, wenn Gott meine Schuld in den Worten zu sich nähme. Wenn die Verfehlung in seinen Händen wohnte. Dann bliebe sie bei ihm, sobald er die Hände von mir nimmt. Aber irgendwie kann ich das nicht glauben. Gott ist so schwer zu greifen, aber die Angst, die Scham, die Traurigkeit und der Schmerz sind mir ganz nah. Ich verliere mich ganz in mich selbst. Ich lese also den Psalm 32 und bin neidisch auf den Menschen, der so fest vertraut, dass ein Wort des Bekenntnisses ihn erlösen kann.
Cornelius Becker, der Pfarrer und Kirchenlieddichter, trägt dem anscheinend Rechnung. In seiner liedhaften Bearbeitung des Psalms beschreibt er den inneren Konflikt und die daraus erwachsende Not des Menschen. Was ihn krank und traurig macht, verlegt er in das Innere seiner Seele. Sein Begriff dafür ist das Herz. „So sehr drückts mich am Herzen“, heißt es in Strophe 3. Es ist ein „Herzwurm“, der ihm das Leiden verursacht. Also nicht die äußere Hand Gottes. Damit muss der Mensch im Lied Beckers sich auseinandersetzen. Mit einer Macht, die in ihm wütet; und der er dennoch nur wenig entgegensetzen kann, weil sie doch auch zu ihm gehört. Ein wahrhaft innerer Konflikt, ein Kampf mit sich selbst. Im Lied finde ich also eine Vorstellung, die mir und meiner Erfahrung viel näher liegt. Die unglaublich große innere Freiheit des Menschen im Psalm steht den komplizierten inneren Verwicklungen des Menschen im Psalmlied Beckers gegenüber. Was aber derartig zu mir selbst gehört, dem kann ich auch nur bedingt etwas entgegensetzen.
Ich kann nicht einfach zu Gott sagen, nimm deine Hand von mir, ich bekenne meine Schuld. Ich muss mich vielmehr damit auseinandersetzen, was in mir ist. Ich muss herausbekommen, was wirklich zu mir gehört und was mich am Leben hindert und leiden lässt. Dazu brauche ich Hilfe.
Das Lied über den Psalm sieht diese Hilfe in Jesus Christus. Es fügt also dem Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen noch eine dritte Person hinzu. Eine Person, die mir und meinem Leiden näher ist als Gott. Jesus, der Mensch, der ebenso leidet wie ich. Dem ich mich offenbaren kann, oder wie Cornelius Becker schreibt: „Drum mein Herz endlich brach herfür“; dem ich also mein Herz ausschütten kann.
Der Unterschied zu der Situation im Psalm lässt sich anhand der eingangs erwähnten Redekur beschreiben. Freud hat seine Patienten nicht angeschaut. Sie lagen auf dem Sofa, gucken nach oben zur Decke und haben ausgesprochen, was immer ihnen in den Sinn kam. Freud saß dabei hinter der Liege, so dass die Patienten ihn nicht sehen konnten. Heute funktioniert das anders. Die Therapeutin sitzt dem Klienten gegenüber, sie schauen sich in die Augen und reden miteinander. Jede Geste zählt, jede Bewegung. Nicht nur die abstrakten Worte. Manchmal braucht es die nicht einmal, manchmal kommt es auf die nicht einmal an; sondern nur darauf, dass ich ein Gegenüber habe, dass genauso ein Mensch ist wie ich.
So verstehe ich Jesus hier im Lied, der sich „aus lauter Gnad“ zu mir herablässt und meine Schuld trägt in „Blut, Tod und Wunden“. Der mir also so ähnlich ist, dass ich mich in ihm wiederfinden kann. Das ich sehen kann, wie es anders wäre. Wie es anders ist.
Was aber Psalm und Psalmlied im Tiefsten miteinander verbindet, ist der Glaube und das Vertrauen, dass Gott mich genau so will, wie ich bin. Auch mit meinen inneren Verwicklungen und mit meinen Verfehlungen. Erstmal gehöre ich zu ihm. Unabweisbar. Erstmal lebe ich. Gott erkennt mich auch unter der Sünde und unter dem Leid. Jetzt kommt es also darauf an, dass ich ihn wieder erkenne im Leid und unter der Sünde. Dass die Verbindung zwischen mir und Gott wieder klar vor Augen steht. Mit Jesus bin ich verbunden im Leid und Jesus ist mit Gott verbunden in seiner Gnade.
Die Redekur, wenn sie gelingt, ist eine Möglichkeit, diese Begegnung zu ermöglichen. Ich finde sie aber auch bei einem Spaziergang am frühen Morgen zwischen den Häusern unseres Viertels, beim Hören einer Bachkantate oder während eines Konzertes einer Rockband. Vor allem finde ich solche Begegnungen im Miteinander, im Teilen von Leid, im Mitgefühl und tätigen Handeln an meinen Mitmenschen. Selbst der Zuhörende sein, oder, noch bewegender, im Austausch auf Augenhöhe, in Freundschaft und Liebe. Darin gibt Gott sich kund, begleitet mein Bekenntnis und schenkt neues Leben. Trotz aller Herzwürmer ist es wunderbar, sich immer wieder auf die Suche nach solchen Begegnungen zu machen. Denn es ist ein Glück, dass es sowas gibt: oder wie es im Psalm heißt: Du bist mein Schirm, du wirst mich vor Angst behüten, dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann. Amen.
- Frei werden – Miteinander und füreinander beten
Wir sind mit dir verbunden, Gott im Himmel,
in allem, was uns auch bedrückt.
Durch deine Gnade können wir frei werden
von den Lasten, die aus unseren Verfehlungen erwachsen.
Frei werden für die Friedfertigkeit,
die unsere Welt so nötig braucht.
Im Kleinen und im Großen.
Wieder frei werden für Gesten und Worte,
die Versöhnung schaffen und die Kriege beenden können.
Hilf uns und allen Menschen,
die unter der Gewalt leiden und sterben.
Frei werden für den Glauben,
dass wir deine geliebten Kinder sind.
Hilf uns, wenn uns Schuld und Wunden niederdrücken,
wenn uns die Gedanken des Leids nicht loslassen,
wenn uns Trauer und Schmerz umfangen.
Frei werden für die Liebe zueinander,
dass wir Mut finden, Unrecht klar auszusprechen
und die Hände zu regen für unsere Mitmenschen.
Dass wir nicht erstarren angesichts der Probleme,
sondern frei werden, nach Kräften
Hilfe zu leisten.
Herr im Himmel, hilf,
durch die Worte deines Sohnes Jesus Christus:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
- Segen
Es segne und behüte uns der allmächtige und barmherzige
Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Er bewahre uns vor Unheil und führe uns zum ewigen Leben.
Amen.
(Pfr. Olaf Wisch)