- Eröffnung
Fünf Wochen nach Ostern feiern wir den Sonntag Rogate. Er legt besonderes Augenmerk auf Gebet und Fürbitte. Zu jeder Zeit und an jedem Ort haben wir diese nötig in einer unübersichtlich gewordenen Welt. Und wir bitten Gott um seine Hilfe und seinen Trost.
An diesem Sonntag beschäftigen wir uns in der Luthergemeinde mit dem Buch „Der alte König in seinem Exil“ des österreichischen Autors Arno. Er beschreibt darin die Begegnung mit seinem dementen Vater und gewährt darin überraschende Einblicke, die uns zeigen, das nicht nur dem Vater sondern auch uns „Normalen“ die Welt fremd und heimatlos geworden ist.
- Von meiner Jugend an – Ein Psalm (Ps 71,1-3b.5.9.20a.21b.23)
HERR, ich traue auf dich,
lass mich nimmermehr zuschanden werden.
Errette mich durch deine Gerechtigkeit
und hilf mir heraus,
neige deine Ohren zu mir und hilf mir!
Sei mir ein starker Hort,
dahin ich immer fliehen kann,
Denn du bist meine Zuversicht, HERR, mein Gott,
meine Hoffnung von meiner Jugend an.
Verwirf mich nicht in meinem Alter,
verlass mich nicht, wenn ich schwach werde.
Du lässest mich erfahren viel Angst und Not
und machst mich wieder lebendig
und tröstest mich wieder.
Meine Lippen und meine Seele, die du erlöst hast,
sollen fröhlich sein und dir lobsingen.
- In den dunklen Stunden – Ein Lied: „Ich möcht‘, dass einer mit mir geht“ (EG 209)
Ich möcht‘, dass einer mit mir geht,
der’s Leben kennt, der mich versteht,
der mich zu allen Zeiten kann geleiten.
Ich möcht‘, dass einer mit mir geht.
Ich wart‘, dass einer mit mir geht,
der auch im Schweren zu mir steht,
der in den dunklen Stunden mir verbunden.
Ich wart‘, dass einer mit mir geht.
Es heißt, dass einer mit mir geht,
der’s Leben kennt, der mich versteht,
der mich zu allen Zeiten kann geleiten.
Es heißt, dass einer mit mir geht.
Sie nennen ihn den Herren Christ,
der durch den Tod gegangen ist;
er will durch Leid und Freuden mich geleiten.
Ich möcht‘, dass er auch mit mir geht.
- In diesen kurzen Augenblicken – Gedanken zu Arno Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil und zu Psalm 71
Psalm 71 ist im Gesangbuch überschrieben mit der Bitte: Verlass mich nicht in meinem Alter.
Das passt unmittelbar zum Buch Arno Geigers. Ein Mensch wird alt und erkrankt an Demenz. Zunehmend verliert er seine Orientierung und findet sich im Alltag nicht mehr zurecht. Für die Menschen um ihn, seine Familie und seine Pflegerinnen ist das eine immense Herausforderung. Der Sohn dieses Menschen beschreibt, wie er nach und nach begreift, was der beste Umgang mit seinem Vater ist. In der Fachsprache heisst das Validierung. Er versucht nicht mehr den Vater von der schalen Wirklichkeit zu überzeugen. Er versucht vielmehr, das, was wir Normalität nennen, an die andersartige Innenwelt des Vaters anzupassen. Er bewegt sich auf einem Zwischenraum zwischen der Welt des Vaters und seiner eigenen. Diese Welten passen nicht mehr übereinander, aber es gelingt ihm, immer wieder Brücken zu schlagen, sprachlich, emotional und alltagspraktisch.
Wir wissen heute, dass im Umgang mit demenzkranken Menschen vor allem die Zeit ein bedeutender Faktor ist. Vieles würde möglich sein, wenn wir die Zeit hätten, jeden einzelnen Menschen zu begleiten. Doch im gegenwärtigen System von Gesundheit und Pflege ist das kaum denkbar.
Der Sohn kann das. Er lässt sein rastloses Leben als Schriftsteller ruhen, gerade an dem Punkt, an dem er beginnt erfolgreich zu werden, und steht dem Vater bei. Fast klingt es, als ruhe er selbst aus. Eine Zeit lang.
Mit diesen Gedanken wird die Bitte des Psalms noch eindringlicher. Wer selbst noch nicht von altersbedingten Krankheiten und Einschränkungen betroffen ist, kann hier einen Eindruck davon bekommen.
Der letzte Vers des Psalms rührt dabei nah an die Geschichte Arno Geigers: Meine Lippen und meine Seele, die du erlöst hast, sollen fröhlich sein und dir lobsingen. Gefangen ist ja der Vater in seiner dementen Welt und nur mit viel Zartgefühl und Geduld ist eine Begegnung möglich. Etwa, wenn der Sohn auf den Wunsch seines Vaters eingeht, nach Hause gehen zu dürfen, obwohl dieser ja zu Hause ist. Dennoch will er und muss er. Er fühlt sich fremd. Er hat Angst, weil er den Weg nicht kennt. Dann begleite ich dich, entscheidet schließlich der Sohn, und löst damit diese schwierige Situation. Die Angst wird weniger und das Herz fröhlicher.
Aber diese Geschichte bietet uns nicht nur einen Eindruck davon, wie Gott uns Menschen an die Seite stellt, die unseren Bitten und Gebeten Erfüllung gewähren.
Denn es gibt auch solche Sätze in Arno Geigers Buch: „Er – der Vater – ist befreit von dem, was man Informationsgesellschaft nennt, also der hat nur noch ein Bezugssystem im Grundsätzlichen. Wenn er Zugriff hat auf seine Intelligenz, was ja nicht immer der Fall ist, oder was leider nur hin und wieder der Fall ist, dann sagt er Dinge von einer Klarheit, also da greife ich danach mit beiden Händen, und ich weiß, das ist wichtig und ich nehm das mit fürs Leben.“
Da greife ich danach mit beiden Händen, sagt der Sohn. Ich nehm das mit fürs Leben. Der Sohn empfängt etwas vom Vater. Von diesem Vater, der kaum weiß, wo er ist und wer er war. Der nur noch in kleinen und kleinsten Kreisen agieren kann. Der Vater, der ständig selbst Hilfe braucht. Aber anscheinend gehen die Hilfe, die Hoffnung und der Trost nicht nur in eine Richtung. Das angesprochene Zitat deutet an, in welcher Weise der Vater für den Sohn hilfreich sein konnte. Der Sohn ist Autor und Schriftsteller. Es ist keine leichte Sache, davon zu leben. Gerade, wie gesagt, begann er, erfolgreicher zu werden. Damit gehen zahlreiche Reisen und eine Rastlosigkeit und Ortlosigkeit einher, die erschöpfend und ermüdend sind. Dazu kommt das, was Arno Geiger Informationsgesellschaft nennt. Ein Strom von Nachrichten und Bildern, von Dokumentationen und Unterhaltungen, eben von Informationen und Inhalten ergießen sich in unsere Köpfe. Das Gehirn ist normalerweise ein leistungsfähiges Organ, aber es braucht mitunter auch Ruhe. Diese Ruhe wird aber in unserer heutigen Welt, in der Informationen auch ein ökonomischer Faktor sind, nur noch selten gewährt. Neben der Verarbeitung selbst müssen wir uns noch andauernd die Frage stellen, was ist wirklich wichtig, was brauche ich und was kann ich wirklich glauben von dem, was im Internet oder in der Zeitung steht. Fröhlichkeit und Lobgesang bleiben da häufig auf der Strecke, Häme, Hass und Gleichgültigkeit werden gefördert.
In dieser Welt ist es nicht leicht zu sagen, wo jemand sein zu Hause hat, woran er sich halten kann und wo er unwidersprüchlich seine Heimstatt hat. Genau genommen könnte man sagen, dass der Sohn sich ebenso fremd und heimatlos fühlt wie sein Vater, der das eigene Haus nicht mehr erkennt. Bis auf wenige Augenblicke, die ihm eine Klarheit der Rede schenken, die der Sohn selbst als eine Gabe empfindet und empfängt. In diesen kurzen Augenblicken gewährt der Vater Einblick in eine Welt, die von Ruhe und Klarheit erfüllt ist und erlöst den Sohn von seiner Rastlosigkeit.
Wer sich auf die Suche nach Gott macht und ernsthaft nach ihm fragt, wird einer Welt begegnen, die ihm fremd ist. Umgekehrt könnte es aber auch sein, dass wir in jeder Begegnung mit einer fremden Welt Gott finden können. Denn nicht umsonst suchen wir ja eine Alternative zu dem, was uns die Haare grau werden lässt. All der Kummer der Welt, all die Krisen und Katastrophen, all das große Unrecht und Leid das uns bedrückt und uns alt aussehen lässt, können wir ja nicht als erstrebenswert erachten. Wenn wir also dieser Welt fremd werden, könnte es sein, dass wir einen Blick erhaschen, der uns darüber hinaus hilft, dorthin, wo Fröhlichkeit und Lobgesang Platz haben. Der Vater ist so eine fremde Welt und in diesem Sinne Gott näher als jeder junge, klardenkende und erfolgreiche Mensch. Vielleicht war es auch die schriftstellerische Neugier des Sohnes, die es ihm ermöglichte, die Welt des Vaters genauer zu erkunden und dabei einen Blick auf den Himmel zu werfen.
Es könnte also sein, dass wir da Gott finden, der viel Verständnis zeigt für eine ihm fremd gewordene Welt.
Amen.
- Vieles in Frage gestellt – Miteinander und füreinander beten
Barmherziger Vater,
im Alter werden wir mit Lebensfragen konfrontiert,
die vieles in Frage stellen.
Nicht nur unser eigenes Leben
sondern auch das, was in dieser Welt uns wichtig erscheint.
Wenn wir nicht mehr können, was wir bisher vermochten,
brauchen wir geduldige und verständnisvolle Hilfe.
In unseren Zeiten sind wir dabei
nicht nur auf unsere Familien und Freunde angewiesen,
sondern auch auf ein Pflege- und Gesundheitssystem,
das oft an seine Grenzen gerät.
So bitten wir dich,
begleite jeden Menschen, der seine Kräfte verliert und Hilfe braucht,
stehen allen Menschen bei, die sich in der Pflege und Begleitung engagieren,
gib ihnen die Geduld und Einsicht, die sie brauchen,
um jenen beizustehen, die ihnen anvertraut sind.
Und gib den Verantwortlichen in der Politik
die Einsicht, dass sie die Notwendigkeit erkennen,
wie aufwändig und kräftezehrend es ist,
diese Hilfe zu leisten.
Wenn unsere Mütter und Väter Hilfe brauchen,
beten wir mit Worten an den Vater.
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde Dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Amen.
- Segen
Es segne und behüte uns der allmächtige und barmherzige
Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Er bewahre uns vor Unheil und führe uns zum ewigen Leben.
Amen.
(Pfr. Olaf Wisch)